Freiwillige Blamage

Während der Normal-Uelzener die derzeitigen Stürme, Hochwasser und damit zusammen- hängende Ängste um Nachtruhe und Hab und Gut mühsam er- trägt, gibt es eine Handvoll verrückter Uelzener, die eben dies freiwillig suchen: Kontakt mit Wind und Sturm, mit Wasser jede Menge. Alexander gehört zu diesen Verrückten. Jeden Montag und Mittwoch büffelt er mit anderen Verrückten im Yachtclub-Gebäude auf der gemütlichen Seite des Kanals für den Sportbootführerschein „Navigation, Seeschifffahrts-Straßenordnung", stöhnt er mir am, vom Winde verwehten Gartenzaun entgegen. Das war vor zwei Wochen und ich nahm sein Jammern nicht sehr ernst. Letzte Woche traf ich ihn wieder, flackernder Blick, leicht hektische Sprache. Von „Verhütungsregeln" sei er jetzt im Schlafe verfolgt, von tiefer Behinderung und Unfähigkeit. Auf meine besorgte Nachfrage hin erklärte Alexander das und ich begriff, daß es Verhütungsregeln gegen Kollisionen auf See gebe und daß nicht nur meine Kollegen, sondern auch Schiffe tiefenbehindert und anderes Schlimmeres sein können. Dabei hatte ihn sein Seefahrts-Guru namens Lange gewarnt. Sie werden die nächsten Wochen an nichts anderes mehr denken als an das Wasser. Sie werden jede Minute Wolken lesen üben. Sie werden nicht ein- schlafen und nicht aufwachen, ohne...". Gelächelt habe er - Alexander, bei dieser Warnung, schließlich habe er Lernen ja gelernt als Lehrer. Außerdem sei sein Lehrer in diesem Kurs selbst richtiger- und guter - Lehrer gewesen. Schlecht nur sei, daß dieser Lange den Schuldienst quittiert habe - wieder ein Guter weniger unter den Richtigen. Alles dreht sich bei Alexander und seinen Kameraden in diesem Heide-Trockenkurs - für die Seefahrt um den Schein. Denn: Diese Freizeitbeschäftigung ,,zum Schein" muss schrecklich sein. Da hocken etablierte Männer und Frauen vor Testbögen - und fallen zurück in scheinbar vergessen gewähnte Gefühle. Jedenfalls Alex. Gestern traf ich Alexander das letzte Mal und nun sieht er wirklich auch abgemagert aus und wirkt desorientiert. Statt „Guten Tag" zu wünschen fängt er mit ,,Rot über Weiß über Rot" an und schüttelt nur deprimiert den Kopf, als ich ihn nach „Freude", „Lust“, „Spaß" frage. Nichts davon erlebe er in diesem Kurs. Er hätte sich überschätzt. „Wegen der 650 Prüfungsfragen?" frage ich besorgt zurück. (So viel Fragen müssen meine Studenten etwa in den Klausuren absolvieren und ich würde das Diplom selbst nicht mehr bestehen, des- halb prüfe ich ja lieber). Er winkte mit dem Finger mein Gesicht in seine Nähe, damit die Frauen ihn nicht hören konnten: Ich habe mich gestern beim Test beim Mogeln erwischt“, flüsterte Alexander“, „bei einem Ab- schreibeversuch." „Und?" fragte ich gespannt, ,,hast Du bestanden?" Aber das war Alexander egal. Er war viel zu entsetzt über die bittere Selbsterkenntnis, keine Spur reifer geworden zu sein in diesen 25 Jahren Schuldienst. Dankbar trennte ich mich von dem Wrack namens Alex. - Und beruhigt ging ich meiner Arbeit nach - Prüfungen abnehmen. Der schönste Job für Leute, die Prüfungen hassen.

31. Januar 1995